Kölner Stadtanzeiger berichtet

Hilfe für Obdachslose – Sprechstunde auf der Straße

Von Bettina Janecek
Ulrich Mennicken (l.) und Stephan Rybczynski bei ihrer ambulanten Sprechstunde

Ulrich Mennicken (l.) und Stephan Rybczynski bei ihrer ambulanten Sprechstunde

Foto: Max Grönert

Köln – Es ist ein Grad über dem Gefrierpunkt, die Einkaufsstraßen in der Innenstadt sind nahezu ausgestorben, als der weiße Transporter gegen 21 Uhr auf den Appellhofplatz rollt. In der Dunkelheit warten schon Trauben von Menschen, kaum jemand spricht. Als die Schiebetür der mobilen Krankenstation aufgeschoben wird, kommt Bewegung in die Menge. Der Internist Ulrich Mennicken und der Medizinstudent Stephan Rybczynski vom Verein „Gesundheit für Wohnungslose“ halten an diesem Abend die Sprechstunde ab – gleich neben der Essensausgabe, die Emmaus und andere Hilfsvereine am Appellhofplatz anbieten.

Es ist ein Kampf gegen Windmühlen, den sie und die anderen Freiwilligen des Vereins jeden Montag und Mittwoch antreten: Ohne technische Geräte, nur mit einem Grundstock an Medikamenten. Nicht einmal Rezepte dürfen sie ausstellen.

Ihre Arbeit empfinden sie trotzdem als befriedigend. „Wir sind eine Anlaufstelle für Menschen, die ansonsten wirklich nirgendwo hin können. Das ist doch mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein“, findet Rybczynski, der seit fünf Jahren dabei ist.

Kommunikation mit Google-Übersetzer

Eine der ersten Patienten an diesem Abend ist Maria. Die Frau aus Rumänien hat mehrere Jacken gegen die Kälte übereinander gezogen. Immer wieder deutet sie auf ihre Augen, um zu zeigen, wo sie Schmerzen hat. Deutsch versteht sie nicht. Als Rybczynski sein Handy zückt, um mithilfe des Google-Übersetzers wenigstens eine rudimentäre Kommunikation in Gang zu setzen, wedelt sie panisch mit den Händen. „No Spital“, ruft sie immer wieder. Sie will auf keinen Fall ins Krankenhaus, womöglich aus Angst vor Registrierung und Abschiebung.

„Viele unserer Patienten kommen aus Rumänien oder Bulgarien. Diese Leute haben keinerlei Krankenversicherung“, so Rybczynski. Selbst manche Hilfsorganisationen wie der Sozialdienst Katholischer Männer tun sich schwer damit, die Elendsmigranten aus Südosteuropa zu versorgen, weil es mittlerweile so viele geworden sind und die Verständigung so schwierig ist.

Was Maria fehlt, bleibt trotz digitaler Übersetzungshilfe ein Rätsel. Ulrich Mennicken gibt ihr schließlich ein Fläschchen Augentropfen mit. Die Frau verteilt zum Dank freigebig Handküsse an alle Anwesenden im Wagen, einschließlich der Journalisten. „Manche Patienten suchen einfach nur ein bisschen persönliche Ansprache“, sagt der 73-Jährige.

Übernachten in der KVB-Haltestelle

Die nächste Patientin ist dagegen eine alte Bekannte, die der Arzt freundschaftlich mit „Hallo Schmitti“ begrüßt. Die 37-Jährige lebt seit langem auf der Straße. Früher, erzählt sie, hat sie in einem Parkhaus gewohnt, jetzt ist sie in eine KVB-Haltestelle umgezogen. Dort ist sie in einer Nacht drei Mal die Rolltreppe herunter gestürzt. „Ausgerechnet an meinem Geburtstag, ich hatte ein bisschen viel getrunken.“ Seither tut ihr rechter Fuß weh.

Mennicken kramt in den Medikamenten, die – ebenso wie der Krankentransporter – vom Gesundheitsamt bereitgestellt werden, Viel ist es nicht, was ihm zur Verfügung steht: ein paar Schmerzmittel, Salben, Antibiotika, einige Notfallmedikamente. „Gesundheit für Wohnungslose, wie es in unserem Vereinsnamen steht, ist eigentlich ein zu großes Wort“, sagt er. „Was wir hier machen, ist lindernde Palliativmedizin.“

Neuer Blick auf die Realität

Man lerne ein ganz andere Medizin kennen als die hoch-technisierte und von bürokratischen Abläufen bestimmte im Krankenhaus, sagt Rybczynski. Der Medizinstudent im neunten Semester, der zuvor schon eine Krankenpflegerausbildung gemacht hat, empfindet das als sehr bereichernd. „Außerdem bekommt man einen völlig anderen Blick auf die Realität.“ Er hat gelernt, dass man vom äußeren Erscheinungsbild eines Menschen nie auf seine Lebenssituation schließen sollte. „Ich habe verwahrloste Menschen erlebt, die Wohnung und Job hatten, und andere, die sehr gepflegt sind, aber auf der Straße leben. Man erwischt sich immer wieder selbst dabei, dass man in Schubladen denkt.“

Einer der letzten Patienten an diesem Abend ist , wie sich herausstellt, der Ehemann von Maria. Er hat eine ernsthafte Verletzung am Auge und müsste eigentlich dringend zum Facharzt. Doch auch er winkt ängstlich ab und beruhigt sich erst, als Mennicken ihm versichert, er mache nur eine „Inspektion“. Mit einer Salbe in der Tasche machen er und seine Frau sich anschließend auf den Weg in die Nacht. Den alten Einkaufs-Trolley mit der aufgeschnürten Iso-Matte ziehen sie hinter sich her.

– Quelle: https://www.ksta.de/28998270 ©2017